Donnerstag, 14. November 2019
Schwierig
Und nun wird es schwierig.
Tagelang, ja, inzwischen schon Wochenlang, bin ich auf Zehenspitzen um das Thema herumgetrippelt, immer in der Hoffnung, dass alles ein Ende, ein gutes Ende, gefunden hat und man kann "Gott sei Dank, es ist alles ruhig, alles vorbei" schreiben. Ist es aber nicht. Chile ist im Aufstand und niemand weiß, wie es weiter geht.
Wobei "Aufstand" - das klingt so politisch. Ist es ja auch, aber mindestens genauso stark und Angst einflößend ist die kriminelle Energie, die damit einher geht. Die Zerstörungen sind immens; in Valpo sind alle Supermärkte geplündert und angesteckt, es gibt keine Apotheken mehr, Dutzende kleine Geschäfte sind ausgeraubt, ganze Familien ohne Existenzgrundlage, Tausende Menschen ohne Arbeit. Sogar die Kirchen mussten dran glauben; jugendliche Banden haben geplündert, verbrannt und zerstört, was ihnen vors Visier kam.
Und so im ganzen Land. Wobei in anderen Städten, z.B. im nahen Vina del Mar, die Präsenz von Polizei und Militär sehr viel stärker war und die Zerstörung nicht so total. Das liegt zum einen daran, dass dort die Reichen wohnen und über den entsprechenden Einfluss verfügen. Zum anderen gibt es in Vina eine konservative Bürgermeisterin, die auf der Linie der Regierenden liegt. Valpo, mit seinem jungen linken Bürgermeister, der nota bene sehr viel Gutes für die Stadt erreichen konnte, hat man bewusst im Stich gelassen. Ob das politische Kalkül der Demontage aufgeht, wird man sehen. Auf jeden Fall ist dies ein glänzendes Beispiel dafür, wie man Politik auf dem Rücken der einfachen Menschen austrägt.
Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Sicherheitskräfte die Lage längst nicht unter Kontrolle haben, obwohl sie sehr massiv auftreten; es gibt viel Tränengas und Gummigeschosse, es wird viel festgenommen und drauf eingeprügelt. Dank Handys ist man ja überall live dabei. Da kommen auch schreckliche Bilder von Menschen, die Ihre Augen verloren haben, weil sie von Gummigeschossen mit Metallkern getroffen worden sind, oder denen man eine Gaspistole ins Gesicht aus der Nähe abgefeuert hatte. Es gibt, wie immer in solchen Fällen, widersprüchliche Angaben über die Todesopfer. Die Zahlen schwanken zwischen 17 und an die 50, wobei ich denke, dass es sicher mehr als 17 sind.
Das Ganze ist wie ein riesiger Vulkanausbruch; jahrelang hat sich vieles angestaut und dann bedurfte es nur einer letzten sozialen Zumutung und dann ging alles hoch. Dieser Auslöser war die Erhöhung der Metrofahrpreise um umgerechnet drei Cent. Nicht der Rede Wert? Doch, das wären für sehr viele sieben Tausend bei einhundert Tausend Peso im Monat, also sieben Prozent des zur Verfügung stehenden Geldes. Es gibt viele ältere Menschen, die von so wenig -und weniger- leben müssen, obwohl sie ihr ganzes Leben hart gearbeitet und in das Rentensystem eingezahlt haben. Dieses jedoch zahlt ihnen lediglich zehn Prozent der Ersparnisse aus. Das vielerorts hochgelobte kapitalisierte Rentensystem hat sich als perfektes Instrument der Abzocke entpuppt. Allein dreißig Prozent der Einzahlungen werden angeblich für die Verwaltung verwendet. Sachen wie diese - und die Liste ist sehr lang- werden vom Parlament genehmigt, in dem Abgeordnete sitzen, die monatlich das dreißigfache des Mindestlohnes von 340 000 Peso nach Hause tragen. Plus die Segnungen der Korruption.
Wie gesagt, die Liste der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten ist lang. Auch nur annähend alle Gründe für den Aufstand aufzuzählen ist schier unmöglich. Aber eines sollte an dieser Stelle noch erwähnt werden, weil es mir besonders am Herzen liegt: die Bildung, besser die öffentliche Bildung. Da sehe ich nämlich einen direkten Zusammenhang zu der Zerstörungswut der Jungen, die man bewusst klein und dumm hält. Es tun sich deutliche Parallelen zu den Gelbwestenaufständen in Europa auf.
Wie das? Die öffentlichen Schulen in Chile sind in jeder Hinsicht ein Disaster. Vor drei Monaten sind Lehrer der Grund- und Mittelschulen in Streik getreten - nicht wegen der lächerlichen Bezahlung, die oft ganz ausbleibt, nicht wegen der fünfzig Schüler pro Klasse, nicht wegen der maroden Schulen, nicht wegen der teuren Universitäten, die für Schüler aus dem öffentlichen System in jeder Hinsicht außer Reichweite sind- nein, der Auslöser war die glorreiche Idee des Staates die Fächer Geschichte und Erdkunde abzuschaffen. Wirklich. Ich konnte es nicht glauben! Zwei Monate lang haben Lehrer landesweit friedlich protestiert, die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte ihre Forderungen. Leider hat sich der Staat nicht einen Millimeter bewegt, es war alles umsonst.
Man kommt nicht umhin den Eindruck zu bekommen, dass die politische Kaste - sprich: eine Handvoll Familien, die das Land aussaugen- darauf bedacht ist, unmündige Arbeitstiere zu produzieren. Der Gipfel des Neoliberalismus sozusagen. Aber davon haben die Menschen hier die Schnauze gestrichen voll: von dem privatisierten Wasser, von dem Stromkonzern, der jetzt den Chinesen gehört (wie menschenfreundlich die sind, weiß man ja), von der Ausbeutung der reichen Bodenschätze von ausländischen Konsortien, und, und und... In dem reichen Land bleibt bei den einfachen Menschen einfach nichts hängen, denn die GIER ist unermesslich. Ob es nur einen Hauch einer Chance gibt, dass sich etwas daran ändert, vage ich zu bezweifeln. Was man hat, hat man. Und wenn es ganz schlimm kommt, dann kommen mal eben die USA vorbei, wie so oft in diesem Weltwinkel. Nein, das Äußerste, was sich ändern könnte, ist die Abschaffung der alten Verfassung, die noch aus der Pinochet- Zeit stammt. Das aber wird in der Praxis nicht viel ändern, denn die Dinge, die wirklich wehtun, sind in Gesetzen geregelt. Um diese zu ändern, müsste man das ganze System stürzen, was nicht passieren wird. Hoffentlich. Hoffentlich?
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1 Kommentar:
sehr beunruhigend, michael
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